Die Gründe für die Entwicklung von Essstörungen sind vielschichtig. Heranwachsende sind vielen Einflüssen ausgesetzt, die ihr Selbstbild und damit indirekt ihr Essverhalten maßgeblich prägen. Neben der Peergroup in der Schule verbringen sie meist viel Zeit in sozialen Netzwerken und sehen dort top gestylte, glücklich strahlende und vor allem schlanke junge Frauen mit scheinbar makellosem Körper. Beim Blick in den Spiegel nehmen sie ihr eigenes Äußeres kritisch unter die Lupe und schneiden im Vergleich – zumindest in ihrer subjektiven Wahrnehmung – deutlich schlechter ab. Sie hadern nicht nur mit ihrer Figur, sie sind auch geplagt von Selbstzweifeln und leiden nicht selten unter anhaltenden Konflikten mit ihren Eltern. Unter Umständen erleben sie in der Schule Mobbing oder ernten abwertende Sprüche, wenn ihr Gewicht nicht dem vermeintlichen Ideal entspricht. Häufig fängt alles ganz harmlos an: Kalorien zählen, bewusster Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel und ggf. zusätzliche körperliche Aktivitäten. Erste Erfolge auf der Waage spornen an und vermitteln das Gefühl, ein Ziel aus eigener Anstrengung erreichen zu können. Das stärkt das Selbstwertgefühl. Doch wann wird aus diesen Verhaltensweisen eine behandlungsbedürftige Essstörung?
Diagnosekriterien für Essstörungen
Essstörungen werden in Magersucht (Anorexia nervosa) und Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) unterschieden. Die Anorexie ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten Gewichtsverlust (z.B. durch Verzicht auf hochkalorische Speisen, übertriebene körperliche Aktivitäten oder den Gebrauch von Appetitzüglern) und einen Body-Mass-Index (BMI) von 17,5 oder weniger charakterisiert. Die Formel zur Berechnung des BMI lautet Körpergewicht/Körpergröße² (in Meter). Als Begleiterscheinung der Anorexie tritt häufig eine Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation) auf. Die diagnostischen Bedingungen für eine Bulimie sind wiederholte Anfälle von Heißhunger (Essattacken), eine übertriebene Beschäftigung mit der Gewichtskontrolle und daraus folgend das Ergreifen von Gegenmaßnahmen, um den dickmachenden Effekt der zugeführten Nahrung zu mildern. Dies geschieht primär durch selbstinduziertes Erbrechen, was auf Dauer zu Schäden der Speiseröhre und Zähne führt. An Bulimie Erkrankte haben in der Regel Normalgewicht, Anorexie-Erkrankte sind untergewichtig, fühlen sich aber immer noch zu dick. Letztere haben also eine verzerrte Körperwahrnehmung. Mädchen sind deutlich häufiger von Essstörungen betroffen als Jungen.
Die Rolle der Eltern: Beobachten und ins Gespräch kommen
Wie können wir als Eltern herausfinden, ob unser Kind ein krankhaftes Essverhalten hat und wie können wir unser Kind bestmöglich unterstützen, wenn wir den Verdacht haben, dass es unter einer Essstörung leidet? Der erste Schritt ist immer aufmerksames Beobachten. Meidet Ihr Kind häufig gemeinsame Mahlzeiten mit der Ausrede, es hätte schon gegessen? Ist die Nahrungsmenge ungewöhnlich gering? Verschwindet Ihr Kind nach dem Essen im Badezimmer? Klagt Ihr Kind über Kreislaufbeschwerden (Schwindel)? Äußert es sich häufig negativ in Bezug auf sein Aussehen, insbesondere seine Figur? Gibt es Anhaltspunkte für Mobbing? Bei derartigen Auffälligkeiten gilt als oberstes Gebot: Ruhe bewahren. Den Nachwuchs zum Essen zu zwingen oder Verbote auszusprechen, wenn nicht ausreichend gegessen wird, helfen nicht weiter. Es geht vielmehr darum, behutsam ins Gespräch zu kommen, indem wir unsere Beobachtungen äußern und interessiert nachfragen, wie es unserem Kind aktuell geht. Hierfür empfiehlt sich das Aktive Zuhören nach Thomas Gordon. Wir versuchen also, uns in die Gefühlswelt unseres Kindes hineinzuversetzen anstatt logisch-argumentativ oder dramatisch-drohend die Gefahren einer Essstörung darzulegen oder gar spöttisch sein Essverhalten zu kommentieren. Jugendliche müssen sich verstanden fühlen, um sich öffnen und sich uns anvertrauen zu können.
Die Rolle der Eltern: Fragen zur Selbstreflexion
Es empfiehlt sich auch, dass wir als Eltern unser eigenes Verhalten kritisch hinterfragen. Äußere ich mich häufig abfällig über Übergewichtige? Gebe ich spaßig gemeinte Kommentare zur Figur meines Kindes ab, die bei ihm auf fruchtbaren Boden fallen oder gibt es derartige unbedachte Äußerungen seitens der Großeltern? Wie stehe ich als Elternteil zu meiner Figur, kann ich mich so annehmen, wie ich bin? Welche Rolle spielen Essen und Genuss in meinem Leben? Dient es beispielsweise als Belohnung oder soll es Gefühle der inneren Leere kompensieren? Ein weiterer wichtiger Punkt ist, ob ich zufrieden bin mit meiner Rolle als Frau oder ob ich meinem Kind bewusst oder unbewusst vorlebe, dass es besser nicht erwachsen werden sollte. Aufschlussreich kann auch die Frage sein, wieviel Freiraum für eigene Erfahrungen ich meinem Kind gewähre. Ist Essen vielleicht der einzige Punkt der Selbstbestimmung? Ganz wichtig: Es geht hier keinesfalls um die Frage der Schuld. Als Eltern geben wir unser Bestes und wollen, dass es unseren Kindern gut geht. Gleichzeitig kann es innerhalb und außerhalb der Familie Einflüsse geben, die die Entwicklung einer Essstörung begünstigen. Da die körperlichen und psychischen Folgen von Essstörungen für die Betroffenen, aber auch für die Angehörigen gravierend sein können, sollte rechtzeitig professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden.
Wenn Sie sich unsicher sind, ob das Essverhalten Ihres Kindes normal ist und Sie Ihre Beobachtungen mit einer außenstehenden Person teilen möchten, zögern Sie nicht, einen Gesprächstermin zu vereinbaren.